DAS DESOLATE BAGUETTE
Loanas Magen meldet sich. Eigentlich hat sie keine Zeit, aber das Frühstück ist schon ausgefallen. Ein paar Scheiben Käse liegen noch im Kühlschrank, dafür ist der Brotkorb leer. Ab in den Fahrstuhl. Loana läuft zur nächstliegenden Bäckerei, die sie sonst meidet. Wie jedes Mal fragt sie sich, als sie durch das Schaufenster schaut, wie es möglich ist, Brote und Kuchen so hässlich und lieblos zu gestalten. Es ist ihr ein Rätsel. Als sie die Tür aufmacht, empfängt sie eine aseptische Luft, sie stellt sich vor, wie die schlecht gelaunte Verkäuferin mit der Sprühdose den chemischen Geruch lustlos über die Waren versprüht. Loana sehnt sich nach den Bäckereien, die noch ihren warmen Duft und ein Gefühl der sinnlichen Geborgenheit ausströmten. Knuspernde Brote, schon von weitem stieg einem der Duft in die Nase, die Hände streckten sich nach dem warmen Laib und presste ihn gegen den Körper. Nein, früher war nicht alles besser, aber einiges schon.
In einer hohen, gläsernen Vase steht ein einsames Baguette. „Ist es frisch?“, fragt Loana. Die Frage ist nicht ernst gemeint, die Farbe sagt schon alles. Bleich wie eine Leiche. Die junge Verkäuferin zuckt die Schultern, ihr gelangweilter Blick gleitet zur Straße hin, als ob sie draußen Hilfe fände vor dummen Fragen. Sie gibt sich aber doch einen kleinen Ruck und überwindet für einige Sekunden ihr gesättigtes Desinteresse. Für das bisschen Lohn, das sie bekommt, und die Unsinnlichkeit ihres Arbeitsplatzes kann man ihr nicht noch Antworten zumuten. Sie schaut konzentriert auf ihre mit French Maniküre bemalten Fingernägeln, eine Methode, die ursprünglich die Aufgabe hatte, den dunklen Rand, der durch Alltagsschmutz unter den Nägeln entsteht und als bäurisch galt, zu verbergen. Die Ansicht scheint sie etwas zu besänftigen und sie greift schwunglos in die Vase hinein, zieht den blassen Laib mit zwei rechteckigen überlangen Nägeln kurz in die Höhe und lässt ihn wieder in die gläserne Hülle fallen. Das sogenannte Baguette krümmt sich schlaff wie ein sterbender Penis und die Verkäuferin antwortet maulend, ja, frisch von heute Morgen.
Loana weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll, der desolate Anblick ist eine perfekte Werbung für Depression. Sie entscheidet sich für ein kurzes Lachen, die junge Frau hinter der Theke schaut sie verständnislos an, zuckt wieder mit den Schultern. Loana stellt sich vor, wie sie ihre Arbeitstage mit zuckenden Achseln verbringt, eine Antwort auf alles, was sie langweilt, ein Abwedeln des Alltags, ein Abwenden von einem Leben, das nicht zu ändern ist und das sie nicht anders kennt. Sollte Loana ihr ihre Meinung über dieses klägliche Baguette sagen? Hat diese junge Frau je ein duftendes Brot erlebt? Die Menschen, die man auf Missstände ansprechen kann, sind nie die Verantwortlichen, sie können nichts für all das Falsche, das sich ansammelt, die Verkäuferin ist nur ein Prellbock, die Gummiwand, hinter der sich die unsichtbaren Gehirne verstecken, die solche Ausgeburten an Brote produzieren. Warum müssen Baguettes, die es schon seit geraumer Zeit zur Perfektion gebracht haben, derart verhunzt werden?
Loana erinnert sich an einen italienischen Bäckermeister, der ihr mit strahlender Hingabe erklärt hatte, wie ein richtiges Baguette zu sein hat. „Es muss alle Sinne ansprechen. Zuerst erfreuen sich die Augen an der goldenen Farbe, mal heller, mal dunkler, für alle Geschmäcker. Dann kommt der Geruch…“, er hatte tief eingeatmet, mit vor Wonne flatternden Nasenflügeln, „dieser Duft füllt den Körper mit Wärme, lässt die Geschmacksknospen erblühen, gibt dem Herzen ein Gefühl der Geborgenheit…“
Die Erinnerung bringt Loana zum Schmunzeln; der vom seinem Baguette beseelte Bäckermeister war nicht mehr zu bremsen gewesen. „Dann kommt das Tasten. Das Brot muss noch warm sein oder sich wenigstens frisch anfühlen und gut in der Hand liegen.“ Er hatte mit der anderen Hand sanft über die Kruste gestreichelt. „Ich bin noch nicht fertig! Jetzt geben Sie acht.“ Er hatte das Baguette wie eine Geige an sein Ohr gelegt und die Augen geschlossen. „Und jetzt müssen Sie lauschen……….. “ Zwischen Daumen und zwei Fingern hatte er zartfühlig auf den langen Laib gedrückt, der kleine Finger etwas nach oben gestreckt. Leise rieselten kaum hörbar knackige Töne durch die andachtsvolle Stille. Er hatte es an ihr Ohr gehalten „Hören Sie, wie die Kruste genüsslich knistert und knackt?“ Loana hatte noch nie zuvor an den Ton eines Baguettes gedacht, dass sie ihm überhaupt zuhören könnte, um zu wissen wie es ihm so geht.
„Und dann, junge Frau, dann…“ Der Bäcker machte eine südländische Pause, augenzwinkernd dramatisch… „Dann bricht man das spitze Ende ab, nur den Zipfel, und schiebt es in den Mund, beißt hinein, lässt in dieser warmen, weichen Grotte Zunge und Zähne ihre Mühlarbeit verrichten, leibt es sich ein und genießt… Das ist Schmecken!“
Sie hatte gelacht: „Aus Wasser, Mehl, etwas Salz, eine Prise Zucker und ein bißerl Hefe wird ein Laib erschaffen, das kurz später in den Schlund einer schlangenartigen Mühle sich wieder in seine kleinsten Teilchen auflöst?“ Er hatte gegrinst und mit dem Auge gezwinkert: „Bei einem Baguette vergeht die Zeit schneller, seine Frische ist volatil, es wird schnell hart und stirbt. Wussten Sie, dass erst Mitte des 17. Jahrhunderts die Schreibweise von Laib aufkam, bis dahin wurden beide Bedeutungen mit ei geschrieben.“ Loana hatte nicht gewusst, dass ein Baguette zum philosophischen Fragezeichen werden konnte. Aber der Bäckermeister war noch nicht fertig. „Dann fließen Schauen und Riechen, Tasten und Knistern, Lauschen, Schmecken, Fühlen und Genießen den ganzen Weg hinein in den Leib, vereinen sich und landen schließlich in den Bauch. Von da aus verbreiten sie sich in den ganzen Körper, bis in die Zehenspitzen. Eine runde Sache, oder?“
Loana hatte nachdenklich das Baguette in den Arm genommen und wie immer hatte sie auf dem Heimweg genüsslich daran geknabbert. Als sie klein war, gab es le goûter, den Nachmittagsimbiss, um Vier nach der Schule, eine französische Tradition. Oft aß sie ein halbes Baguette, ohne was drauf. Und mit Genuss. Erst sehr viel später erfuhr sie, das sie dafür bemitleidet worden war. Brot ohne Butter, Wurst oder Käse? Die Arme! Sie mochte es so.
Sie schaut auf die Missgeburt in der Vase. Natürlich gibt es sonst etwas bessere Baguettes als dieses extrem desolate Exemplar, aber eine Bäckerei ohne den warmen Geruch von Brot verdient ihren Namen nicht und knisternde Baguettes sind wohl ausgestorben, ganz zu schweigen von dem besonderen Geschmack. In Supermärkten tastet Loana heimlich, drückt zwischen drei Fingern, Knistern und Riechen tun sie nicht, das weiß Loana schon lange, dennoch hofft sie immer wieder. Und überhaupt sollten Baguettes würdig im Regal stehen und nicht wie tot in einer durchsichtigen Plastikschublade liegen, aber wie sähe es dann aus? Lauter krumme Teile ohne Haltung… Wieso nehmen die Kunden es alle hin? Wie leben Menschen, die nur Falsches verkaufen? Und diejenigen, die Falsches kaufen? Oder gilt man als verwöhnt, wenn man sieht, wie manches gute Ding, das die Menschheit erfunden hat, in den Abflussrinnen der industriellen Lieblosigkeit entfleucht?
Loana schaut auf den traurigen Wurm, mit dem die Verkäuferin ihre Tage verbringt, und nimmt sich vor, bald wieder zu kommen, um das Bild fotografisch festzuhalten. Tristesse in Kunst zu verwandeln ist das einzige, was bleibt. Missmutig lässt sie ihren Blick über die Brezeln wandern, die nur Archäologen zu einem Freudenschrei bewegen könnten, über die Croissants, die ihren Namen nicht verdienen, über den Erdbeerkuchen, dessen Aroma an Sägespäne erinnert, über all die klebrigen Stücke, über das fahle Licht, die lieblos gestalteten Plastikregale, über den weißen Kittel der Verkäuferin, der sie an Krankenhaus und seinem Geruch erinnert. Man ist was man isst, heißt es. Ihr Appetit, dieses lustvolle Verlangen, zieht sie missmutig zur Tür hinaus. Die Verkäuferin wartet, etwas genervt von dieser seltsamen Kundin. Loana will doch nur ein gutes Brot, ist das zu viel verlangt? Sie zuckt die Schultern, zeigt auf einen Sonnenblumenleib, von dem sie sich auch keine Wonne verspricht, zahlt und geht. Die Zeit läuft, sie denkt zu viel, was nützt es über die Dekadenz dieser Welt zu sinnieren? Schade, dass die Anästhesierung, die es möglich macht solch eine Welt auszuhalten, nicht so ganz bei ihr einschlägt. Na, hab dich nicht so, Millionen Menschen in der Welt sterben vor Hunger, sie werden uns täglich beim Frühstück und Abendessen serviert, damit wir dankbar bleiben, für das was uns aufgetragen wird. Und du regst dich wegen einem Baguette auf? Sie schüttelt die Gedanken weg und verdrängt die Rebellion ihrer Geschmacksknospen.