KRIEG, GRENZENLOS…
„Der Krieg ist gewonnen – aber nicht der Friede“. Einstein
Als sie klein war, stellte sie sich eine Grenze wie einen weißen Kreidestrich vor, über dem sie auf einem Bein hin und her hüpfen konnte. Wenn sie aber mit ihren Eltern über die Grenze fuhr, standen diese uniformierten Männer vor ihren kleinen grauen Betonklötzen, die autoritär nach dem Pass fragten und misstrauisch schauten. Sie hatten hässliche Uniformen an, grün auf der deutschen Seite, blau bei den Franzosen ein paar Meter weiter. Gleich ausschauende Männer, aber in verschiedenen Hüllen und mit anderen Worten im Mund. Für sie als Kind war es immer seltsam, an einer Grenze zu leben. Mutterland – Vaterland, von einer Linie getrennt, die von bewaffneten Zöllnern kontrolliert wurde. Die Reste von zerstörten Mauern in der Stadt, wie vergessene Kulissen eines alten Dramas, die Bombengruben, in denen Kinder nicht spielen durften und es natürlich doch taten, die unausgesprochenen Geschichten über den Krieg, und später das langsam wachsende Bewusstsein, dass noch kurz vor ihrer Geburt die eine Seite ihrer Familie sich mit der anderen zerfleischt hatte… Hass –
In den ausgebombten Feldern lagen dunkler Tod und frisches Leben nahe beieinander. In den Bruchwiesen ließ es sich gut spielen. Hinter den ersten neuen Betonbauten, die einzeln aus der zerstörten Vergangenheit sprossen, lag das Abenteuer. Ohne Übergang ging es von der neu asphaltierten Straße in die Wildnis. Löcher, Gruben, Krater, Reste eingefallener Häuser, es war gefährlich, verboten, spannend, die Kinder lernten mit der Angst umzugehen, entdeckten den Kitzel des Risikos. Im Außen einen Schritt voran, im Innern einen zurück. Der Stolz vor den anderen, die Angst als feige dazustehen, besonders vor den Großen, verhinderten einige Rückzieher. Die Kinder spielten Krieg, was denn sonst, aber nicht den Krieg, der diese Wunden erschafft hatte, in denen sie herumtollten. Sie kämpften als Cowboy und Indianer, dieser Krieg war zum Kinderspiel geworden.
Aus Erdgruben und Mauerresten wurden Berge, Grotten, Hinterhalte und Verstecke. Gebüsche verwandelten sich in gemütliche Tipis. Ein Karton auf dem Boden wurde zum Bisonfell, zwischen ein paar Steinen flammte ein imaginäres Feuer und davor drohte die Birke, der Marterpfahl. Je nach festgesetzten Regeln konnte ein unüberlegtes Verplappern, eine gegenteilige Meinung einen schon in die demütige Situation bringen, gefesselt an der Birke zu stehen und von der Clique mit Weidenhieben bedroht zu werden. Das war nicht immer lustig.
Wenn sie einen Knochen fanden, wurden sie kurz stiller: eine vage bedrohende Realität verdrängte die Geschichten, in denen sie gerade lebten. Tier oder Mensch? Menschenknochen waren spannender, gefährlicher, Schatten, die die Fantasie verdunkeln. War das wahr oder wollten die größeren Jungs ihr nur Angst machen? Sie war noch so klein und dazu noch blauäugig, das Böse konnte doch nicht so böse sein und Tod war ein Wort, das meist nur im Spiel vorkam. „Peng! Du bist tot! Hey! Du musst liegen bleiben…“ Einmal hatte sie einen Sarg gesehen, der einsam im Treppenhaus lag, als ob man ihn vergessen hätte. Die alte Nachbarin lag darinnen, ihr Gesicht seltsam starr und gelblich. Erschrocken war sie weggelaufen, als ob sie dies nicht hätte sehen dürfen. Aber die Nachbarin war schon so alt. Das war ein anderer Tod.
Die Geschichten der Realität, in der sie geboren wurde, mochte sie nicht. Sie wusste nicht viel, denn ihre Eltern sprachen nicht darüber, aber sie spürte wie die langen Schatten der Vergangenheit an ihnen klebten. Papa, warum gibt es Krieg? Das ist nichts für dich, später, wenn du größer bist…. Geh spielen! Ein bleiernes Schweigen hatte sich über die Vergangenheit gelegt. Die Menschen wollten vergessen, doch durch alle Poren der Stadt drang ein Dunkel, der die Kinder umhüllte, etwas Grausames war geschehen, das machte sie neugierig, doch so richtig trauten sie sich nicht, es zu wissen. Das spürte sich zu bedrohlich an, sie fühlten, dass es etwas war, was die Fantasie nicht mehr kontrollieren konnte, es war übermächtig. Da konnte man nicht von einer Minute auf die andere mit dem Spiel aufhören: „ich mag nicht mehr“, „ich hör auf“, das ging nicht in diesem Krieg der Erwachsenen. Schnell wechselten die Kinder wieder in ihre eigene Welt.
Gras, Unkraut, wilder Weißdorn bedeckten nach und nach die Wunden. Zarte Blüten auf Ruinen. Die Erde war dunkel und jederzeit konnte ein Fuß auf eine ungelöste Bombe stolpern. Deswegen war es ja auch verboten, dort zu spielen. Doch wussten sie nicht wirklich was eine Bombe war. Dass sie gefährlich war, hatte man ihnen gesagt, dass sie explodiert, tötet und Leib und Seele zerreißt, hatte man ihnen vorenthalten, die Bilder der Gefahren der Welt hatten noch nicht ihre Fantasie überschwemmt. Fernsehen durften sie nicht und ihre Mutter hatte ihr noch nicht von den Bomben erzählt, die sie überlebt hatte. Sie konnten sich das Bild einer Bombe ausmalen, wie sie wollten, nahmen sie gern als vage Gefahr, es würzte ihre Spiele, sie taten ja nur so. Spielst du echt oder nicht echt? Sie lebten mehrere Leben. Wenn die Eltern sie erwischten, gab es Ärger. Den Jungs wurden die Ohren langgezogen bis sie glühten, die Mädchen an den Haaren und Armen gezerrt. Weinend oder wütend, aber alle ängstlich gingen die Kinder unter bösen Augen und Schimpftiraden nach Hause, wo es auch mal Schläge hagelte. Bis zum nächsten Tag, wenn sie nicht Stubenarrest hatten.
Sie spielten mit Bildern eines längst vergangenen Krieges: Karl May stand im Regal, die Westernfilme im Kino waren ein Erlebnis der besonderen Art. Auch hier ging es um eine Grenze, das spürte sie mehr als dass sie es verstand. Eine Grenze, die sich immer mehr verschoben hatte, bis das letzte Wildpferd gefangen war. An Karneval wollte sie Indianerin sein, obwohl die Perücke kratzte und die Schminke juckte. Cowboys fand sie doof. Sie wäre gern eine echte Indianerin gewesen, aber in Saarbrücken ging das nicht und dazu war sie auch noch blond.
Sie weinte viele Tränen unter der Bettdecke, unter der sie heimlich mit der Taschenlampe las, als die Heldin Nscho-tschi von dem hinterhältigen Schurken umgebracht wurde, und als Winnetou getötet wurde, hatten Beton, Asphalt und brave Rasenflächen auch die letzte Wildnis in den Bruchwiesen unterworfen. Der Weißdorn, den sie so liebte, diese Heil- und Zauberpflanze, wie jemand ihr erzählt hatte, verschwand. Die Cowboys hatten gesiegt. Ihre Eltern schüttelten den Kopf, sie verstanden sie nicht, doch für sie hatte sich eine Pforte geöffnet: es gab andere Welten, als die in der sie lebte und diese fand sie erst in Büchern.
Auf beiden Seiten der Grenze hatte die Familie es schwer. Bei ihrer französischen Großmutter, die Mutter ihres Vaters, lernte sie früh die Armut kennen. Sie brauchte nur aus dem Fenster zu schauen. In den kohlegeschwärzten Ruinen gegenüber verkauften Leute, was sie konnten. Düstere Bilder, zerstörte Menschengestalten, an denen das Leid klebte wie der zähe Ruß an den Mauern der Kohlestadt, in der es schon ohne Krieg schwer genug war sein Leben zu leben. Einige schrien und brüllten vor Verzweiflung. „Sie haben den Kopf verloren“, sagte ihre Großmutter. Sie verstand nicht was sie damit meinte.
Abends ging sie nicht gern schlafen, denn über ihrem Bett hing ein riesiges Ölbild an der orange-braun-großgeblümten Tapete. Das Porträt ihres früh, an Krankheit, verstorbenen Großvaters, der in Algerien geboren war, in Tunesien im 1. Weltkrieg zugange war und später in Frankreich Klempner wurde. In der blau-weiß-roten Uniform der Zuaves, martialisch vom Schnurrbart bis zu den Stiefeln, stützte er sich auf ein langes Bajonett und blickte streng auf sie herunter. Er machte ihr Angst und sie war erleichtert, ihn nie kennengelernt zu haben, obwohl der Vater ihr erzählte, er sei ein lieber Mensch gewesen. Das verstand sie auch nicht.
Die einzigen friedlichen Lichtblicke in dieser Schwärze waren der tropfende Frischkäse in den Faisselle, eine Köstlichkeit, und die leckeren, ganz dünnen, grünen Bohnen – in Butter und Knoblauch auf dem Kohleherd geschwenkt-, die es so auf der anderen Seite der Grenze nicht gab. Einmal die Woche gab es den Markt, wo lauthals das Gemüse angepriesen wurde. Sie liebte es, wenn diese Stimmen sie am frühen Morgen weckten und freute sich auf das bunte Getümmel. Hin und wieder gab es drei Löffel von der selbstgemachten Marmelade ihrer Großmutter, vielleicht vier, wenn sie ganz brav gewesen war. Kleine Löffel wohl gemerkt. Wie brav musste sie sein, um diesen Luxus zu verdienen? Die Gläser standen ganz oben auf dem dunklen Schrank mit der knarrenden Tür, sie hatte keine Chance heimlich zu naschen. Ihre Lieblings-marmelade war Rhabarber mit der einen Scheibe Orange darinnen. Dass auf dieser Seite der Grenze das Essen viel besser schmeckte, trotz großer Armut, verwirrte sie. Erst später fragte sie sich: War die Großmutter in ihrer Wohnung gewesen, als die Bomben fein säuberlich die Häuser ihrer Nachbarn auf der anderen Straßenseite in Schutt und Asche legten? Sie bekam keine Antwort, niemand wollte darüber reden. Ihre Großmutter litt seit dem Krieg unter starken Depressionen. Doch auch auf der anderen Seite der Grenze, bei ihrer deutschen Großmutter, verdunkelten schwarze Wolken das Leben. Sie ging nicht gern zu ihnen, denn dazu waren sie auch noch streng.
Es kamen neue Grenzen hinzu. Tante Vera lebte hinter der Mauer. Sie wohnte in der Nähe von Berlin, und war Witwe. Ein paar Tage vor Kriegsende hatte ihr Neffe, noch minderjährig, sie abholen wollen, um in Richtung Süden zu flüchten. Sie liebte ihn wie einen Sohn, eigene Kinder konnte sie nicht bekommen. An dem Tag saß sie auf dem Gehsteig auf ihrem Koffer und wartete auf ihn. Sie wartete lange. Er kam nicht. Er wurde zum Volkssturm einbezogen und kam kurz danach um. Daraufhin hatte sie nicht mehr die Kraft zum Auswandern, das Haus zu verlassen, in dem sie den Großteil ihres Lebens gelebt hatte. Und bald war es zu spät, die Mauer stand. Sie bereute es bitter, denn ihre ganze Familie war im Westen.
Sie hat ihre Tante nur selten gesehen, und nie bei ihr zuhause in Eberswalde. Das war verboten, das hatten ihre Eltern ihr erzählt. Die Tante kam einmal zu ihrer Kommunion, wieso sie dafür eine Erlaubnis bekommen hatte bleibt schleierhaft. Ein paar Mal trafen sie die Tante in Ost-Berlin, in einer Gaststätte, nachdem sie eine schwierige Grenze überquert hatten. Während sie mit ihren Eltern durch die Straßen fuhr, schaute sie neugierig durch die Fensterscheibe. Wieder eine andere Welt. Ihr Vater zeigte wütend auf die Gebäude und schimpfte gegen das Grau der DDR, verglich sie mit den Lichtern der westlichen Welt. Ob es nun an der aufkeimenden Rebellion der Pubertät lag oder sie einfach allergisch gegen diese Vergleiche war, ist unklar, jedenfalls konnte sie der Provokation nicht widerstehen, obwohl sie wusste, was dann kommt. Sie fragte ihren Vater, ob es so toll sei, von Reklamen beleuchtet zu werden. Prompt lagen sie sich in den Haaren. Sie wusste damals nicht, dass ihr Vater sich wegen eines längst enttäuschten Traumes schämte, dem Traum durch eine neue Idee die Welt zu verbessern und damit Kriege zu verhindern. Er war als junger Mann Kommunist gewesen.
Sie wusste nur, dass es für die Tante kompliziert war, sich mit ihnen zu treffen, die Erwachsenen sprachen leise. Unter dem Tisch schob die Tante ihren Eltern heimlich Dinge zu. Das größte Objekt war eine silberne Suppenkelle, ein Familienstück, die der Vater unter der Lederjacke zwischen Schulter und Ellbogen über die Grenze schmuggelte. Das passte wie angegossen. Es wäre spannend gewesen, wenn die Tante nicht so viel Traurigkeit in den Augen gehabt hätte, wenn sie hinter dem Eisernen Vorhang zurückblieb.
Nach Winnetous Tod und neben den üblichen Ballspielen tauchte bei den Nachbarkindern das Monopoly auf. Ziel des Spiels ist es, ein Grundstücksimperium aufzubauen, alle anderen Mitspieler in den Ruin zu treiben und am Ende räumt einer alles ab. Sie machte mit, sie war schon Außenseiterin genug, aber begeistert war sie nicht.
Als Teenager wurde sie in Frankreich, ihrem Vaterland, öfters als „sale boche“ beschimpft und einmal auf einem Dorffest fast zusammengeschlagen – zum Glück sei sie kein Junge, brüllte der um die zwanzig Jahre alte Angreifer. Das deutsche Kennzeichen auf dem Auto ihrer Eltern hatte gereicht, um Wut und Hass in dem Jungen zum Kochen zu bringen. Ihr Geschlecht war eine nette Grenze gewesen, die sie davor geschützt hatte, mit blauen Flecken und kaputten Zähnen herum zu laufen. Pickel und ein Busen, der kein Frühling am Horizont erkennt, waren ja schon Ärgernis genug für die lädierte Selbstsicherheit eines 14jährigen Mädchens. Als Feindin angesehen zu werden, als Schuldige für vergangene Grauen, für den Tod seiner Familienangehörigen ließ sie erstarren. Das war kein Spiel.
Die Ironie bestand darin, dass sie offiziell Französin war. Ihre Mutter musste bei ihrer Heirat ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgeben. Es war alles so kompliziert, die Angriffe schmerzten und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Einerseits verstand sie seine Wut, seine Trauer, andererseits hatte sie mit all dem nichts zu tun, und doch kam in ihr ein diffuses Gefühl von Schuld hoch, auch wenn sie es nicht benennen konnte.
Auf beiden Seiten war sie eine halbe Fremde. In Frankreich, dem Vaterland, dem Sieger, dem Land, in dem das Essen bunt schmeckte, ließen sich manche Menschen leichter zu Spitzen, Kritiken, Bosheiten gehen, als Sieger hatten sie ein Recht auf Hass, auch wenn sie viel zu jung für Ressentiments waren. So aggressiv wie auf dem Dorffest hatte sie es nur einmal erlebt, aber Worte können auch zu Kugeln werden, die sich ins Fleisch bohren und dort stecken bleiben. Später einmal fanden die Eltern eines Freundes ihren Wagen mit Schweinekot beschmiert, auf der Frontscheibe stand „sales Boches“. In Deutschland, dem Mutterland, herrschte Schweigen, sie wurde nicht direkt mit Aggressionen konfrontiert, doch sie spürte manchmal einen gewissen Vorbehalt gegen ihre französische Hälfte und wusste nicht was bei den Menschen in einigen Köpfen so lief. Sie ahnte nur, dass im Krieg Gewinnen und Verlieren ganz andere Gefühle wecken und doch am Ende beide Seiten irgendwie auf der Strecke bleiben.
Deshalb mochte sie den Geschichtsunterricht nicht, in dem es praktisch nur darum ging, die Daten von vergangenen Kriegen, Kaisern und Königen auswendig zu lernen, dazu kamen noch Hungersnöte und Epidemien. Auf jeder Seiten der Grenze sah die Geschichte etwas anders aus, das machte es nicht einfacher. Die Titelbilder der Zeitungen, die ihre Eltern lasen, boten keinen Stoff für ein mögliches Wohlgefühl. Die grauen Nachrichten im Fernsehen, die Abend für Abend über das Land schwappten, waren ein eisernes Ritual. Da herrschte Stille, sonst gab es Ärger mit dem Vater. Sie wunderte sich über die Sprecher, die mit starrer Miene eine schlechte Meldung nach der anderen heruntersagten. Die Worte blieben in der Luft hängen, wie Rauchschwaden, die sich langsam über das Abendbrot auflösten. Nicht wirklich gehört, weil alles sich sträubt.
Sie flüchtete in die Welt der Bücher, dort ging es zwar auch nicht immer friedlich zu, aber sie wusste, dass es die Fantasie war, die ihr Geschichten erzählte. So wie sie als kleines Kind mit dem Fuß aufstampfen und sagen konnte: „Ich spiel nicht mehr mit, ich mag nicht mehr“, hatte sie die Freiheit ein Buch beiseite zu legen und sich dieser Geschichte zu verweigern.
In beiden Ländern wollten die Menschen vergessen, sehnten sich nach Frieden. Wie lebt es sich mit der Angst im Nacken es könnte jederzeit wieder passieren? Der Krieg hatte niedergemäht, was vom alltäglichen Leben übrigbleibt. Es war, als ob sich der Zugang zu ihren Seelen verschlossen hätte. Wie lebt man in dem Bewusstsein, dass man den Krieg zugelassen und erlitten hat, egal auf welcher Seite man sich befand? Nur wenige einzelne Geschichten bestätigten, dass es auch anders gehen konnte. Wie eine kurze gemeinsame Weihnacht zwischen Feinden im Sumpf eines Schlachtfeldes.
In der Schule erfuhr sie irgendwann vom Holocaust, von dieser unfassbaren Grausamkeit, die in ihrem Mutterland gewütet hatte. Und von den Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki geworfen worden waren. Dass man den Bomben Kosenamen gegeben hatte, Little Boy und Fat Man, machte sie fassungslos.
Sie hatte so viele Fragen, die unscharf in ihr wüteten. Wie ging Leben weiter? Die „alten“ Kriege wurden in Geschichtsbüchern eingelagert, „Man habe von nichts gewusst“, „Andere waren schuld“… Der Feind war immer woanders, der Teufel auf der anderen Seite der Grenze.
Der kalte Krieg legte sich über die Welt, eine permanente Bedrohung, die Bombe des Damokles, die nur an einem Haar über den geduckten Köpfen der Menschen hing. Die Bilder von heißen Kriegen in der Welt mehrten sich, aber sie fanden nur im Fernsehen statt. Stellvertreterkriege schenkten dem Westen den Frieden, das fühlte sich gar nicht gut an. Es gab eine Zeit, in der sie kurz Hoffnung fand, dass eine neue Geschichte entstehen könnte. Peace & Love, was für ein schönes Ideal. Sie wurden dafür belächelt, kritisiert, angegriffen, die Schule machte Ärger, wenn sie sich zu sit-Ins im Pausenhof versammelten und auf den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg lernte sie schnell zu laufen, um den Polizisten, die sie jagten, zu entkommen. Sie verstand nicht, wieso man gegen diese zwei Worte sein konnte. Frieden und Liebe.
Das Wirtschaftswunder nahm Fahrt an. Ihre Eltern kämpften sich peu à peu aus der Armut heraus, der Vater machte Karriere, die Mutter musste peu à peu ihre Berufsträume begraben, sie wurde trotz Doktortitel Hausfrau, was ihr gar nicht lag.
Sie hatten sich Anfang 1946 in Tübingen kennengelernt. Erst Jahrzehnte später fand sie im Keller die Korrespondenz ihrer Familie und die hoffnungsvollen Glückwünsche zur Hochzeit ihrer Eltern, sie sei ein verheißungsvolles Präludium für ein künftiges freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Die meisten aber waren skeptisch, was die Zukunft der Ehe anbetraf.
Und sie erfuhr, dass ihre Mutter am ersten Tag des Friedens von Französischen und Marokkanischen Soldaten in Tübingen vergewaltigt worden war, wie so viele andere Frauen auch.
Ihre Mutter musste mehrere Jahre in eine Nervenanstalt. Fluten der Wut und der Paranoia wechselten mit versteinerter Depression ab. Ihr Vater war überfordert, litt er doch selbst unter Attacken von Kakerlaken, ein französischer Ausdruck für Trübsinnigkeit. In einem Brief, den sie auch im Keller fand, schreibt ein Freund ihrer Mutter: „…Verzeihe, wenn ich mein Erstaunen doch nicht verhehlen kann, was das schönste und dabei klügste Mädchen, das so berückend tanzte und übersprudelte von Esprit – kurz, was meine Idealgestalt einer Frau an diesem Ort, in einer Nervenklinik, tut.“ Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie in friedlichen Zeiten aufgewachsen wäre? Wären ihr psychiatrische Klinik und Psychopharmaka erspart geblieben? Wie viele Menschen auf der Welt wurden auf diese Weise tief in ihrem Wesen verwundet und mit welchen Auswirkungen auf ihre Kinder und Kindeskinder?
Krieg ist die grausamste menschliche Krankheit. Der Geruch, den jeder Krieg hinterlässt, bleibt in der Seele kleben wie schwarzer Nebel. In den Samen der Väter, in den Bäuchen der Mütter, in jedem Kind, das neu geboren wird.
Dezember 2022: „Der ukrainische Botschafter Makeiev wünscht sich Waffen zu Weihnachten: Deutschland habe zugesichert.“
Januar 2023: „Was Frankreich und Deutschland verbindet? Liebe ist es jedenfalls nicht“. Die Welt.